Man findet sich vor (3)

Als Embryo in Form eines Einzellers fand ich im Moment der Zeugung schon etwas vor: die Geschichten meiner Eltern und die Geschichte des Lebens selber, die sich als mein Eigenes durch mich verkörpern wollte. Grundsätzlich haben mich diese (zu Fleisch und Blut gewordenen) Geschichten gut aufgenommen, mich im Leibe meiner Mutter mit nahrhaften Stoffwechselprodukten versorgt und mir die Fähigkeit mitgegeben, alles was ein Mann an Organen und Gliedern braucht, auszubilden. Nun, die Geschichte meiner Eltern war gewiss nicht unproblematisch, die Geschichte des Lebens selber schon gar nicht – was macht ein Embryo, wenn die vorgefundenen Geschichten etwas enthalten, das ihm Bedrohung signalisiert? Darauf muss er reagieren, um weiter wachsen zu können.

Wachstum ist Bewegung. Das Wachstum eines Embryos im Mutterleib lässt sich also als eine Bewegung ansehen, in deren Verlauf der Embryo die Geschichten seiner Mutter, seines Vaters und des Lebens selber sozusagen verkörpern lernt. Verkörperung (Inkarnation) ist eine Bewegung in der Zeit. Man braucht diese Bewegung, um da sein zu können. Was sich nicht verkörpern kann, ist nicht da.

Bei der Verkörperung „ordnet“ ein Embryo die Geschichten seiner Eltern um sein Eigenes (das ist nichts anderes als die Geschichte des Lebens selbst, auf die er sich als „Anker“ bezieht) herum. Er versucht dabei wie jedes Lebewesen, Bedrohungen zu umgehen, um so ungestört wie möglich wachsen zu können. Bedrohungen haben also eine gestaltbildende Kraft. Ich nehme an, dies ist ihre Funktion. Bedrohungen stellen den ursprünglichen Wachstumsimpuls des Embryos in Frage. Er reagiert darauf, indem er seinen Wachstumsimpuls so variiert, dass er um die Bedrohung herumwachsen kann.

Hier finde ich eine erste Antwort darauf, welche Funktion das „Infragestellen meiner selbst“ schon ganz am Anfang meines Daseins gehabt haben könnte. Es ging von den Bedrohungen meiner Umgebung aus, und ich übernahm es, um mein Wachstum anzupassen und so zu überleben. Ein Embryo wird auf diese Weise im Laufe seiner Entwicklung zu einem getreuen „Negativ“ der Bedrohungen in den Geschichten seiner Eltern. Er verkörpert sie alle, da er ja um sie „herumgewachsen“ ist. Seine Eltern wiederum haben sich im eben beschriebenen Kontakt zu den Bedrohungen ihrer Eltern verkörpert und so weiter.

Desgleichen wird ein Embryo zu einem getreuen „Negativ“ jener Strategien und Muster, mit denen seine Eltern ihren Bedrohungen begegnen. Er wächst damit auch in ihre Ressourcen und Begrenzungen hinein. Inkarnation ist offenbar ursprüngliches Lernen. Das Neue, der Kristallisationskern des Ganzen aus der Geschichte des Lebens an sich, aus seinem Eigenen, beschränkt sich jedoch nicht auf diese Ressourcen und Muster. Er drängt darüber hinaus, einfach aus sich heraus. Das bedeutet, der Embryo „lernt“ während seiner Entwicklung, seiner Inkarnation, auch vom Leben selber, von seinem Eigenen. Er ist nicht auf Mutter und Vater beschränkt. Was das bedeutet, „kriegen wir später“, hier nur soviel: Das Eigene erweist sich irgendwann als die Kraft, die sich durch diesen Menschen ausdrücken will, die über ihn hinausweist und ihn veranlasst, aus den Geschichten von Vater und Mutter hinauszutreten und sich in der Welt zu „inkarnieren“, etwas zu gestalten und zu leben, das nur er oder sie selbst tun kann, weil es nur dieses einzige Mal vorhanden ist.

Zurück zum Embryo im Mutterleib. Er muss ja nicht nur mit immanenten (in den Geschichten seiner Eltern enthaltenen) Bedrohungen umgehen, sondern auch mit ganz konkreten Gefahren während der Schwangerschaft. Wie er da reagiert, wird deutlicher, wenn man sich klarmacht, dass er existentiell von seiner Umgebung, dem Leib der Mutter, abhängig ist. Stirbt die Mutter, muss auch er sterben. Geht es der Mutter schlecht, leidet er Mangel. Ist die Mutter im Ungleichgewicht, muss er das so gut es geht ausgleichen, damit seine weitere Versorgung so stabil wie möglich bleibt. Eine Schwangerschaft aus der Sicht eines Embryos kann sich durchaus wie ein Krimi mit ungewissem Ausgang anfühlen.

Alles, was ein Embryo in Bedrohungssituationen tut, ist auf die Stabilisierung seiner Wirtin, der Mutter, ausgerichtet. Entweder er wächst langsamer, bewegt sich weniger und schont damit seine Wirtin. Oder er hört ganz auf zu wachsen – und stirbt. Aus meiner Sicht haben Fehl- und Totgeburten ihren wesentlichen Zusammenhang in der Reaktion des Embryos auf die Lebens-Geschichten, an denen er sich herausbildet. Manche scheint er nicht verkörpern zu wollen oder zu können. Diese Dynamik gehört offenbar zum Repertoire des Lebens. Ein Embryo, der seinem weiteren Wachstum nicht mehr vertraut, stirbt einfach von sich aus. Wenn dies seine letzte Möglichkeit ist, den Leib der Wirtin zu stabilisieren, nutzt er sie. In der Aufstellungsarbeit kann man sehen, wie die Stellvertreter solcher vorzeitig aus dem Leben gegangenen Embryos damit völlig in Ordnung sind, nichts bedauern und in Liebe auf ihre Eltern blicken.

Nun, ich selbst hatte als Embryo wohl schon den Eindruck, dass es ok. sei, bis zur Geburtsreife heranzuwachsen. Dann jedoch hatte ich keine große Lust, auf die Welt zu kommen.

Fortsetzung folgt.

Man findet sich vor (2)

Ich mag die Idee, ich sei aus der Sicht des Lebens eine Selbstverständlichkeit, jemand, der aus sich selbst heraus verständlich, plausibel, berechtigt und eben einfach da ist. Ich mag diese Idee, da sie nichts ausschließt, auch nicht meinen Hang, mich selbst in Frage zu stellen. Die Eigenart, mir selber gegenüber nicht neutral zu sein bis hin zur völligen Infragestellung, hat offenbar eine sinnvolle Funktion für das Leben selbst. Das Leben hat noch nie etwas Überflüssiges hervorgebracht.

Im Folgenden schaue ich mir diese überaus seltsame Funktion des Lebens in mir selber etwas näher an. Dazu beginne ich beim Ursprung der Welt aus meiner Sicht: bei der Empfängnis im Leib meiner Mutter. Seit diesem Moment bin ich ja da, wenn auch noch nicht entfaltet, sondern als körperlicher Ausdruck des Zusammenseins meiner Eltern in Form eines Einzellers, mit immerhin zwei ineinander verschmolzenen Zellkernen. Ein Einzeller hat kein Selbstverhältnis, er kann sich nicht in Frage stellen – oder doch? Die befruchtete Eizelle im Leib meiner Mutter hat ihr Selbstverhältnis außerhalb von sich. Sie ist mit ihrem Stoffwechsel vollkommen auf die Mutter bezogen. Ihr Wohl und Wehe hängt absolut vom Wohl oder Wehe der Mutter ab.

Das bedeutet: die Mutter ist das Selbst des Embryos. (Ich rede hier absichtlich nicht vom Ich. Dieser Begriff ist emanzipatorisch gefärbt, was ja für ein in Symbiose lebendes Wesen wie den einzelligen Embryo Unsinn wäre.) Im weiteren Sinne gehört auch der Vater zum nach außen bezogenen Selbstverhältnis des Embryos, denn indem er wächst, repräsentiert er die  väterlichen Gene ebenso wie die der Mutter. Der Embryo wird im Laufe seiner Entwicklung im Mutterleib zu einem Ausdruck von beiden. Ist er nur das, also eine Reproduktion seiner Erzeuger? Oder gibt es mehr, gibt es etwas Eigenes, nach dem Satz: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“? Wenn ich auf meine Arbeit mit Aufstellungen schaue und den aktuellen Forschungen in der Genetik zuhöre, komme ich zu der Vermutung:

Das Leben kennt keine Kopien. Es ist nicht dazu in der Lage, das gleiche noch einmal hervorzubringen. Es schafft immerzu etwas Neues, auch innerhalb derselben Gattung, innerhalb desselben Elternpaares, sogar bei Zwillingen. Als Embryo verkörpert man zwar Vater und Mutter, aber das Leben erschöpft sich nicht darin. Es scheint eher so, als ob es diese Verkörperung als Gefäß, als Vorwand oder als Gelegenheit nutzt, um etwas zuvor so nie Dagewesenes ins Dasein zu bringen. Jeder Mensch verkörpert etwas, das nicht von seinen Eltern kommt, sondern offenbar vom Leben selber. Niemand anderes hat genau das. Es scheint so, als würde ein Embryo seine Mutter und seinen Vater um sein Eigenes herum wie um einen Kristallisationskern versammeln, einfach indem er wächst. In der Arbeit mit dem Lebens-Integrations-Prozess (LIP nach Nelles) kann sich das Eigene zeigen, wenn der Stellvertreter des Embryos dafür frei ist. Wir nennen es innere Vision oder Berufung oder Lebensmelodie.

Ich als Embryo wurde also im Laufe meiner Entwicklung im Mutterleib zu einem Ausdruck des Lebens an sich, sozusagen inmitten des Ausdrucks von Vater und Mutter. Damit kommt zum notwendigerweise außer sich verankerten Selbstverhältnis des Embryos neben Mutter und Vater als ein dritter Bezugspunkt noch das Leben selbst hinzu. Auf alle drei Bezugsinstanzen reagiert der Embryo. In Beziehung zu allen dreien bildet sich sein Selbst, auch wenn er davon noch nichts „weiß“ im Sinne einer kognitiven, aussprechbaren Geistestätigkeit.

Alle drei – Mutter, Vater und das Leben selbst – haben eine Geschichte. Auch auf diese Geschichten reagiert der Embryo, während er sich im Mutterleib ausdifferenziert, Gliedmaßen, Herz, Hirn und Organe ausbildet und ein Fötus wird. Er nimmt diese dreifache Geschichte seiner Herkunft in sich auf, sie wird Teil seines Selbstes, zunächst im „schlicht“ biologisch–körperlichen Sinn, wie die neuesten Studien zur genetischen Abbildung und Vererbung traumatischer Erfahrungen zeigen. Ich schließe daraus, dass alle gravierenden Erfahrungen genetisch abgebildet und weitergegeben werden, auch die sogenannten guten Erfahrungen wie Fülle, Wachstum und Gelingen. Sie bilden im Ganzen die Geschichte, an der ein Embryo sein Selbst ausbildet, einfach indem er wächst. Sie entfalten sich durch seine Entwicklung. Wie reagiert er, wenn ihm nicht gefällt, was sich da in ihm abbildet?

Fortsetzung folgt.