Man findet sich vor (2)

Ich mag die Idee, ich sei aus der Sicht des Lebens eine Selbstverständlichkeit, jemand, der aus sich selbst heraus verständlich, plausibel, berechtigt und eben einfach da ist. Ich mag diese Idee, da sie nichts ausschließt, auch nicht meinen Hang, mich selbst in Frage zu stellen. Die Eigenart, mir selber gegenüber nicht neutral zu sein bis hin zur völligen Infragestellung, hat offenbar eine sinnvolle Funktion für das Leben selbst. Das Leben hat noch nie etwas Überflüssiges hervorgebracht.

Im Folgenden schaue ich mir diese überaus seltsame Funktion des Lebens in mir selber etwas näher an. Dazu beginne ich beim Ursprung der Welt aus meiner Sicht: bei der Empfängnis im Leib meiner Mutter. Seit diesem Moment bin ich ja da, wenn auch noch nicht entfaltet, sondern als körperlicher Ausdruck des Zusammenseins meiner Eltern in Form eines Einzellers, mit immerhin zwei ineinander verschmolzenen Zellkernen. Ein Einzeller hat kein Selbstverhältnis, er kann sich nicht in Frage stellen – oder doch? Die befruchtete Eizelle im Leib meiner Mutter hat ihr Selbstverhältnis außerhalb von sich. Sie ist mit ihrem Stoffwechsel vollkommen auf die Mutter bezogen. Ihr Wohl und Wehe hängt absolut vom Wohl oder Wehe der Mutter ab.

Das bedeutet: die Mutter ist das Selbst des Embryos. (Ich rede hier absichtlich nicht vom Ich. Dieser Begriff ist emanzipatorisch gefärbt, was ja für ein in Symbiose lebendes Wesen wie den einzelligen Embryo Unsinn wäre.) Im weiteren Sinne gehört auch der Vater zum nach außen bezogenen Selbstverhältnis des Embryos, denn indem er wächst, repräsentiert er die  väterlichen Gene ebenso wie die der Mutter. Der Embryo wird im Laufe seiner Entwicklung im Mutterleib zu einem Ausdruck von beiden. Ist er nur das, also eine Reproduktion seiner Erzeuger? Oder gibt es mehr, gibt es etwas Eigenes, nach dem Satz: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“? Wenn ich auf meine Arbeit mit Aufstellungen schaue und den aktuellen Forschungen in der Genetik zuhöre, komme ich zu der Vermutung:

Das Leben kennt keine Kopien. Es ist nicht dazu in der Lage, das gleiche noch einmal hervorzubringen. Es schafft immerzu etwas Neues, auch innerhalb derselben Gattung, innerhalb desselben Elternpaares, sogar bei Zwillingen. Als Embryo verkörpert man zwar Vater und Mutter, aber das Leben erschöpft sich nicht darin. Es scheint eher so, als ob es diese Verkörperung als Gefäß, als Vorwand oder als Gelegenheit nutzt, um etwas zuvor so nie Dagewesenes ins Dasein zu bringen. Jeder Mensch verkörpert etwas, das nicht von seinen Eltern kommt, sondern offenbar vom Leben selber. Niemand anderes hat genau das. Es scheint so, als würde ein Embryo seine Mutter und seinen Vater um sein Eigenes herum wie um einen Kristallisationskern versammeln, einfach indem er wächst. In der Arbeit mit dem Lebens-Integrations-Prozess (LIP nach Nelles) kann sich das Eigene zeigen, wenn der Stellvertreter des Embryos dafür frei ist. Wir nennen es innere Vision oder Berufung oder Lebensmelodie.

Ich als Embryo wurde also im Laufe meiner Entwicklung im Mutterleib zu einem Ausdruck des Lebens an sich, sozusagen inmitten des Ausdrucks von Vater und Mutter. Damit kommt zum notwendigerweise außer sich verankerten Selbstverhältnis des Embryos neben Mutter und Vater als ein dritter Bezugspunkt noch das Leben selbst hinzu. Auf alle drei Bezugsinstanzen reagiert der Embryo. In Beziehung zu allen dreien bildet sich sein Selbst, auch wenn er davon noch nichts „weiß“ im Sinne einer kognitiven, aussprechbaren Geistestätigkeit.

Alle drei – Mutter, Vater und das Leben selbst – haben eine Geschichte. Auch auf diese Geschichten reagiert der Embryo, während er sich im Mutterleib ausdifferenziert, Gliedmaßen, Herz, Hirn und Organe ausbildet und ein Fötus wird. Er nimmt diese dreifache Geschichte seiner Herkunft in sich auf, sie wird Teil seines Selbstes, zunächst im „schlicht“ biologisch–körperlichen Sinn, wie die neuesten Studien zur genetischen Abbildung und Vererbung traumatischer Erfahrungen zeigen. Ich schließe daraus, dass alle gravierenden Erfahrungen genetisch abgebildet und weitergegeben werden, auch die sogenannten guten Erfahrungen wie Fülle, Wachstum und Gelingen. Sie bilden im Ganzen die Geschichte, an der ein Embryo sein Selbst ausbildet, einfach indem er wächst. Sie entfalten sich durch seine Entwicklung. Wie reagiert er, wenn ihm nicht gefällt, was sich da in ihm abbildet?

Fortsetzung folgt.

2 Gedanken zu “Man findet sich vor (2)

  1. Herr Kollege, dieser Beitrag ist nichts Überflüssiges und keine Kopie, so wie das Leben selbst. Es wird immer philosophischer.

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