Man findet sich vor (1)

Seit ich spüren, fühlen, denken und wahrnehmen kann, gibt es mich schon. Ich bin für mich selbst eine vertraute Umgebung, so vertraut wie das möblierte Zimmer meiner Oma. Ich bin gemeinsam mit mir aufgewachsen, gemeinsam mit mir ein junger Mann gewesen und nun in der permanenten Gesellschaft eines „Mannes in den besten Jahren“. Bauch, Halbglatze, Lachfalten und so. Andererseits finde ich mein morgens anzutreffendes Selbst häufig alles andere als selbstverständlich. Es kann entzückende und betörende, aber auch lähmend ermüdende bis verstörende Züge annehmen. Manchmal ist es einfach eine Zumutung.

Dementsprechend hatte ich zeitlebens zu den vorgefundenen Gegebenheiten meines Selbst ein sehr unterschiedliches, wechselhaftes und mitunter dramatisches Verhältnis. Seit wenigen Jahren beginnt es sich zu entspannen. Merkwürdigerweise wird es dadurch nicht selbstverständlicher. Eher abenteuerlicher. Über dieses Abenteuer versuche ich mir hier etwas klarer zu werden. Was ich mit „Ich“ meine, weiß ich noch nicht so genau, vielleicht wird es mir im Laufe des Aufschreibens deutlicher. Ich bin jedenfalls nicht meine Gedanken, Gefühle oder Körperempfindungen. „Ich“ bin der, der sie wahrnimmt und ausspricht, der sie in Erfahrungen, Bewegung und Verhalten umsetzt. Es gibt also drei Instanzen in diesem Spiel: Ich, mein Inneres und meine äußere Umgebung.

Mir ist dabei etwas aufgefallen: Was mir in meinem Inneren begegnet, unterscheidet sich wenig vom Äußeren. Die innere Vergegenwärtigung der Welt mittels Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken, Mustern und sonstigen Veranstaltungen ist nicht besonders verschieden von dem, was sie repräsentiert. Vielleicht liegt der Unterschied nur in dem einen Punkt, dass das Innere eben innen ist, während ich in den äußeren Erscheinungen sein Pendant antreffe – möglicherweise vor allem diejenigen Teile des Inneren, die mir nicht bewusst sind, also mehr als neun Zehntel. Die äußere Lebensrealität und meine innere Wirklichkeit bedingen einander. Sie spiegeln sich gegenseitig in einem so umfassenden Sinn, dass mir manchmal der Atem stockt.

Im Folgenden tue ich so, als wäre dieses Phänomen etwas, von dem ich ausgehen könnte – eine Art fester Punkt im Dasein. Das bedeutet: Was ich über das Innere sage, gilt auch für das Äußere. Das Innere ist in diesem Fall jene Erscheinungsform des Lebens, welche ich antreffe, wenn ich mich mir selber zuwende. Das Äußere ist dann alles, was ich antreffe, wenn ich mich etwas anderem als mir selber zuwende, also die Welt. Diese Unterscheidung bleibt natürlich eine Improvisation, ein etwas gewagtes Modell. Ich bin ja selber Teil der Welt und umgekehrt, daher kann ich gar nicht über die Welt reden, ohne mit denselben Worten zugleich von mir selbst zu sprechen. Als Modell jedoch mag es für den Moment angehen.

Also nun: das Innere. Je länger ich da bin, umso überraschter bin ich von dem, was da so passiert. Wie schon angedeutet, bin ich mir selbst gegenüber nicht neutral. Nie bin ich das, jedenfalls kann ich mich nicht erinnern. Entweder mir gefällt, was ich da wahrnehme, oder es gefällt mir nicht. Es gibt Abstufungen, aber nicht mit Selbstverständlichkeit. Es fällt mir auch schwer, mich fraglos als gegeben hinzunehmen. Das betrifft üblicherweise Teile von mir, manchmal auch mein ganzes Dasein.

Mir ist dabei noch etwas aufgefallen: Das Leben scheint sich nicht zu irren. Es macht einfach nichts falsch, jedenfalls nach seinen eigenen Maßstäben. Es bringt Dinge und Lebewesen zu ihrer Zeit hervor – einfach aus sich selbst heraus, je nach seinen eigenen Möglichkeiten und Begrenzungen. Was es hervorbringt, ist da. Punkt, nichts weiter. Ob Säbelzahntiger, Nachtigall – oder mich. Das Leben scheint sich jeglicher Bewertungen zu enthalten. Es bringt einfach hervor. Das wirkt auf mich seltsam neutral oder unpersönlich. Ich weiß aber, dass es etwas in mir gibt, das persönlich und mit Nachdruck am Leben hängt. Dieses Etwas hat schon einige Male dafür gesorgt, dass ich noch da bin. Es bekam dabei auch Unterstützung vom Leben selbst – in Form meiner Eltern, von Ärzten oder von glücklichen „Zufällen“.

Fortsetzung folgt.